Siedlungsgeschichte Kappadokiens
von Andus Emge, Göreme

Kappadokien zählte bereits im frühen Neolithikum, also ab dem achten vorchristlichen Jahrtausend, zu den ersten Siedlungsarealen seßhaft werdender Bevölkerungsgruppen. Durch die bedeutenden Obsidianvorkommen in dieser Region kam es schon früh zu Handelbeziehungen mit Mesopotamien und den levantinischen Kulturen, die jenes vulkanische Glas zur Herstellung von Ackergerät benötigten. Die bekanntesten Siedlungsfunde aus der Zeit um 6500 v. Chr. stammen aus Catal Hüyük bei Konya und aus Asikli Hüyük nahe Aksaray, also aus Gebieten westlich der eigentlichen Tuffhöhlengebiete Kappadokiens. Gegenwärtig finden auch Ausgrabungen zur Erforschung der Bauanlagen aus der 2. Hälfte des 8. Jhs. v. Chr. auf dem Göllüdag in Kappadokien statt.  Ob allerdings die frühen Siedler bereits Höhlenwohnungen in den Tuff in der nähreren Umgebung von Göreme geschlagen haben, muß  vorerst der wissenschaftlichen Spekulation vorbehalten bleiben, obwohl dies als wahrscheinlich anzunehmen ist.

Seit der späten Bronzezeit, also etwa der Zeit um 1600 v. Chr., blühte in Zentralanatolien die Kultur der Hethiter, welche ein halbes Jahrtausend lang großen Einfluß auf die umliegenden Völkerschaften gehabt hatten. Obwohl wie wir wissen auch die Hethiter Höhlenräume aus dem Fels gestalteten, finden sich doch auch aus dieser Zeit bisher keine eindeutigen Beweise für eine verbreitete Höhlenkultur Kappadokiens.

Nach 1200 v. Chr. kam es im Zusammenhang mit dem Einbruch der Seevölker zu größeren Völkerbewegungen in Kleinasien, aus denen dann in Zentralanatolien die Phryger als politische Macht hervorgingen. Manche Forschungen besagen, daß bereits zu jener Zeit die gewaltigen unterirdischen Stadt- und Verteidigungsanlagen von Kaymakli und Derinkuyu geschaffen wurden, die in mehreren Stockwerken und mit labyrinthartigen Zugängen angelegt wurden. Diese ließen sich mit mühlsteinähnlichen Rolltüren hermetisch gegen äußere Einwirkungen verschließen und hätten sich in idealer Weise auch als Bollwerke gegen die nach Zentralanatolien eindringenden Assyrer geeignet.

Tatsächlich sind jene Anlagen auf Grund eigener Brunnen und Vorratsräume, sowie eines ausgeklügelten Belüftungssystems bestens für Verteidigungszwecke konzipiert. Aber auch zum Schutz vor Feuer, etwa gegen die zu jener Zeit durchaus noch möglichen Eruptionen der Vulkane Erciyes  und Hasan Dagi hätten solche unterirdischen Höhlenanlagen gute Dienste leisten können.

Als dann in späterer Zeit zunehmend Truppen des aufblühenden Archämenidenreiches in dieses Gebiet eindrangen, entstanden auch in dem Vulkangebiet um den Erciyes Dagi zaroastrische Magiergenossenschaften, die Feuerdienste leisteten und Opfer in Höhlen darbrachten. Die eigentliche intensivere Phase der historisch nachweisbaren Besiedelung der Region um Göreme setzte jedoch im ersten nachchristlichen Jahrhundert ein, als Askese übende und Einsamkeit suchende  Eremiten aus dem von dem Apostel Paulus christianisierten Caesarea in die unzugänglichen Täler Kappadokiens zogen, um dort ein gottgefälliges Anachoretenleben zu führen. In den folgenden Jahrhunderten kamen dann immer mehr christliche Gruppen oftmals griechischen oder armenischen Ursprungs auf Grund der Neuordnung der Kirche in Caesarea unter den Kirchenvätern Basileus dem Großen, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz nach Kappadokien. Damit begann die eigentliche Blütezeit der Kloster- und Kirchengemeinschaften, und die Epoche der Einzelaskese und des individuellen Anachoretentums ging ihrem Ende zu.

Seit 574 n. Chr. fielen verstärkt feindliche Gruppen aus Persien in das byzantinische Kappadokien ein und eroberten im Jahre 605 Caesarea. Somit gewann ein neuer Aspekt der christlichen Siedlungsweise  an Bedeutung. Immer mehr Glaubensbrüder und Schwestern aus den umliegenden Regionen flüchteten in die unzugänglichen Tuffgebiete Kappadokiens. Die künstlich gestalteten Höhlenanlagen wurden nun einzig und allein unter verteidigungsstrategischen Gesichtspunkten konzipiert, wobei die meisten  Höhlenwohnungen und unterirdischen Kirchen mit verschließbaren Tunnels und Fluchtschächten ausgestattet wurden. Überall entstanden neue Höhlendepots und Zisternen, um die rasant wachsende Bevölkerung ernähren zu können. Wahrscheinlich stammt auch ein Großteil der oben erwähnten unterirdischen Städte in ihrer jetzigen Ausdehnung aus dieser Zeit. Viele dieser Höhlenanlagen waren untereinander weitläufig verbunden, um ein möglichst hohes Maß an Sicherheit  gewährleisten zu können.

Als ab dem Jahre 642 n. Chr. verstärkt arabische Gruppen nach Kappadokien eindrangen, blieben die Fluchtanlagen weiterhin von aktueller Bedeutung. Und auch während des sogenannten großen Bilderstreits zwischen den Jahren 726 - 842 n. Chr. war ein unauffälliges Wohnen in den abgelegenen Höhlen ein wichtiger Aspekt für die Glaubensgemeinschaften, deren religiöse Überzeugung von der herrschenden Meinung der Kirche abwich. So lebten mehrere Jahrhunderte lang christliche Glaubensgruppen, immer auf Tarnung und Verteidigung bedacht, in speziell für diese Zwecke konzipierten Höhlenbehausungen.

Ein bis heute kunsthistorisch bedeutsames Element dieser byzantinisch- christlichen Höhlenkultur Kappadokiens ist die in ihrer Art einmalige Erschaffung von geheimen Höhlenkirchen, die Elemente der byzantinischen Sakralarchitektur mit denen der lokalen Tuffhöhlenbauweise verband. Diese Höhlenkirchenarchitektur zählt zu den bekanntesten und am besten erforschten kulturellen Zeugnissen Kappadokiens. Diese Tatsache ist auch eine der Hauptgründe für das seit Jahren zunehmende touristische Interesse an dieser Region. Die ersten Höhlenkirchen entstanden bereits gegen Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts und wurden auch in den folgenden Jahrhunderten jeweils vom Stil der jener Zeit üblichen byzantinischen Sakralarchitektur geprägt. Aber auch nach dem Untergang des byzantinischen Reiches im 11. Jahrhundert wurden weiterhin unterirdische Kirchen in den Tuff geschlagen und sorgfältigst ausgemalt, eine Tradition, die sich in Einzelfällen selbst bis Anfang des 20 Jahrhunderts in bestimmten Gebieten erhalten hat. So ist es auch nicht verwunderlich, daß sich bis in die heutige Zeit hinein vor allem viele Kunsthistoriker mit den alten kappadokischen Sakralbauten beschäftigen und ihre Ergebnisse in einer Vielzahl von  Publikationen niedergelegt haben.

Die Höhlenkirchen Kappadokiens sind zumeist auf einem kreuzförmigen Grundriß angelegt, haben eine oder mehrere Kuppeln, Tonnengewölbe oder Flachdecken, Formen, die auch häufig miteinander kombiniert wurden. Oftmals finden sich sogar Altäre, Taufsteine, Fresken, Säulen und Sitzbänke mit Tischen und Essschalen, die in "negativer", also substrahierender Gestaltungssweise aus dem Fels gemeißelt wurden. Es bildete sich in Göreme zwar  kein eigener regionalspezifischer Kirchentyp heraus, jedoch sollte die Variationsbreite der verschiedenen Zwischenformen von einfachster Kappellenbauweise und statisch unbedeutender Kuppel- und Säulengestaltung erwähnt werden, die sich nur in solch einer Höhlenbauweise entwickeln konnte. Zu Beginn des achten Jahrhunderts wurden viele dieser Höhlenkirchen mit einfachen geometrischen Mustern und bis ins 11. Jahrhundert mit hochentwickelter Freskenmalerei ausgesschmückt, die bis heute vielfach erstaunlich gut erhalten sind, sofern sie nicht durch Menschenhand mutwillig zerstört wurden.

Das Jahre 1071 stellte durch die Schlacht von Manzikert, in der die aus Zentralasien über Persien eindringenden Seldschuken unter der Führung von Albarslan die byzantinischen Truppen des Kaisers Romanos IV vernichtend schlugen, einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte Kappadokiens dar. In immer neuen Schüben drangen diese türkischen Gruppen nach Anatolien ein und konnten so ihren Einfluß auf Kleinasien letztlich ungehindert ausbreiten.

Obwohl die Seldschuken in Glaubensfragen als toleranter galten als die in den Jahrhunderten vorher eingedrungenen Perser und Araber, war damit doch die Blütezeit des Christentums in den Höhlentälern Göremes zu Ende; viele der dort lebenden Mönche zogen nach Westen, um dort neue Klostergemeinschaften außerhalb des islamischen Herrschaftsbereichs zu gründen. In der Folgezeit verfiel die christliche Hochkultur Kappadokiens immer mehr. Statt der byzantinischen Klostergemeinschaften bewohnten nun einfachere christliche Bauern griechisch-anatolischer Kultur die Täler Kappadokiens, die aber weitgehend in ihren eigenen Ortschaften oder Vierteln / Mahalle isoliert blieben.

Um die Wende des Jahres 1300 begann die Epoche der Osmanen; das neue türkische Reich festigte sich. In den folgenden Jahrhunderten wurden viele der vorher nomadisierenden Gruppen zentralasiatischer Herkunft seßhaft, so auch in den altchristlichen Ortschaften Kappadokiens. Die Türken übernahmen dabei teils die alten leerstehenden Höhlenwohnungen und wandelten diese ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend um. Auch bauten sie eigene Wohnhöhlen oder gliederten neue Hausfassaden an die ehemals unauffälligen oder getarnten Höhlenanlagen an. So entstanden die für Kappdokien heute so typischen Haus-Höhlenagglutinate, wobei auch Stilelemente der  arabischen Haustypen in die Bauweise übernommen wurden.

Diese Konzeption der türkischen Wohnweise unterscheidet sich wesentlich von jener der alten byzantinischen Christen. Letztere lebten über Jahrhunderte hinweg eng miteinander in klösterlichen Gemeinschaften, wobei viele der Höhlenräume vor allem aus strategischen und sozialen Gründen als Durchgangsareale konzipiert waren. Für die traditionellen Türken jedoch, die jahrhunderte lang als wandernde Nomaden in relativ kleinen Zelten gelebt hatten, stellt ein jedes Zimmer eine Einheit für sich dar, welches nur von außen her zugänglich war und niemals mit einem Nebenraum verbunden wurde. Diese internalisierten Raumvorstellungen spiegeln sich auch deutlich  in der nun "türkischen" Wohn- und Bauweise Kappadokiens.

In der Folgezeit nach der türkisierung Anatoliens lebten so  jahrhundertelang christliche und moslemische Gruppen friedlich nebeneinander. Erst nach dem türkischen Freiheitskrieg im Jahre 1923  verließen infolge des griechisch- türkischen Bevölkerungsaustauschs die letzten orthodoxen Christen Kappadokiens ihre Höhlenwohnungen und siedelten nach Griechenland um. Deren alte Siedlungungsstrukturen waren oftmals von einem besonderen griechischen Stil geprägt. Gut präsentierte Beispiele der griechischen Siedlungsweise Kappadokiens finden sich heute noch vor allem im ehemaligen Sinasos (Mustafapascha) bei Ürgüp und dem alte Gelveri (heute Güzelyurt) nahe der Ihlara-Schlucht. Vor allem die griechischstämmigen kappadokischen Siedler aus dem alten Gelveri  haben heute eine neue Ortschaft nahe Karvalla im trakischen Griechenland errichtet, in der sie die alte kappadokische Kultur sowie ihre alten internalisierten kappadokischen Bräuche weiter pflegen. Auch ein eigenes "Center for Cappadocian Studies" mit kleinem Museum und Archiv,  sowie  regelmäßigen kulturellen Veranstaltungen wird von den Altkappadokiern in Neas Kavali erfolgreich geführt und der Öffentlichkeit präsentiert. Alljährlich auch pilgern sie mit Glaubensbrüdern zu ihren alten Kultstädten und Kappellen in Kappadokien, um so ihren verehrten Heiligen, wie etwa dem im 3.Jh. lebenden Gregor von Nazianz huldigen zu können. Auch zu Ostern 2000 fand in dem Openair-Museum in Zelve eine orthodoxe Zeremonie mit dem Glaubensvätern aus Istanbul und Griechenland statt, von denen auch manche kappadokischen Ursprungs waren. Die Tradition des Christentums ist also selbst in der Gegenwart genauso präsent wie sich auch die Nachkommen der Umgesiedelten in ihrer neuen Heimat in 'Neas Kavali' - dem neuen Gelveri - nach wie vor als "Kappadokier" fühlen.


1) Wichtige Veröffentlichungen über die Höhlenkirchen von Kappadokien stammen von:

Rott, H.; Kleinasiatische Denkmäler aus Pisidien, Pamphylien, Kappadokien und Lykien, Leipzig 1908
Jerphanion, P.W. de ; Une nouvelle province de l' art Byzantine las eglises rupestres de Cappadoce. Paris 1925-42
Budde, Ludwig ; Höhlenkirchen in Kappadokien, Düsseldorf 1958
Thierry, N. und M ; Nouvelles eglises rupestres de Cappadoce. Region de Hasan Dagi "Paris 1963
Kostof, Spiro; Caves of God, Oxford University, 1972
Wagner, J.; GÖREME - Felsentürme und Höhlenkirchen Im türkischen Hochland, Stuttgart 1979
Rodley, L.; Cave Monasteries of Byzantine Cappadocia, Cambridge-London-New York, 1985
Wiemer-Enis, Hanna; Die Wandmalerei einer kappadokischen Höhlenkirche: Die Neue Tokali in Göreme. Peter Lang Verlag, Frankfurt,  1993
Asutay, Neslihan; Templonanlagen in den Höhlenkirchen Kappadokiens (Dissertation: Universität Bonn), Peter Lang Verlag, Frankfurt, 1996



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